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EUPHORIUM
Magazine.
Independent
Reviews of Jazz, Contemporary & Improvised Music written
by Oliver Schwerdt.
Radikal-kritisch, poetisch. Relativ.
Achim Kaufmann: Knives [LEO], Later [PIROUET]; Uwe Oberg: Twice, At Least [LEO], Work [HAT HUT], Olo Olo [HYBRID]; Borchert, Johanna: Orchestre Ideal [WHY PLAY JAZZ]; Kaja Draksler: The Lives of Many Others [CLEAN FEED]; Eve Risser: Des Pas Sur La Neige [CLEAN FEED]; Magda Mayas: Heartland [ANOTHER TIMBRE], Terrain [GAFFER]; Florian Wittenburg: Aleatoric Inspiration [NURNICHTNUR]; Christian Wallumrod: Pianokammer [HUBRO]; Philip Zoubek: Air [WHY PLAY JAZZ]; Hermann Keller: Schwebungen/Brechungen [EDITION RZ], 29 Stücke für präparierten und nicht präparierten Flügel [JAZZWERKSTATT]; Alberto Braida: Qued [Z-REC]; Keith Tippett: Mujician I&II [FMP], Mujician III [FMP], Mujician IV [DARK COMPANION]; Matthew Shipp: Before the World (FMP); Jacques Demierre: One is Land [CREATIVE SOURCES]; Masabumi Kikuchi: Black Orpheus[ECM]
Im Zwischenschein von Aufnahme und Veröffentlichung meines eigenen Debuts eines Klavieres ganz allein 2016 mit erlaubten Hörproben und daraufhin 22 zugelassenen Besprechungen überwiegend jünger auf eben diese Art eingespielter und jüngst veröffentlichter Audio-Datenträger erbauter Spiegelsaal
Hallo!
2016 ist es soweit: mit 36 Jahren möchte ich meine 2015 im Alter von 35 Jahren ‒ mein Mentor Baby Sommer hat bekanntlich sein Solo-Debut kurz vor seinem 36. Geburtstag eingespielt[1] ‒ aufgenommene Klavier-Solo-Musik als meine erste[2] Klavier-Solo-Veröffentlichung realisieren, Vor der Veröffentlichung, nicht etwa vor der Aufnahme ‒ das würde wohl zu musikgeschichtlich etwas angestrengten Ergebnissen führen und wäre der eigenen Aussagefähigkeit vielleicht abträglich ‒ höre ich mich mal um, was nach den mir als mich inspirierend bekannten Meisterwerken des amerikanischen Wegbereiters und der ihm folgenden zentralen Akteure der ersten europäischen Generation Zeitgenössisch Improvisierter Klavier-Musik[3] also neben Taylors Energieflüge atemberaubender Dauer, Schlippenbachs konzise dichter Tonkonstellationen und Fred van Hoves unendlich langrollendem Bogen entstanden ist. Eine wissenschaftliche Arbeit kann ich mir dabei nicht leisten, nur einige persönliche, journalistisch tendelnde Notizen machen. Da ich in Deutschland lebe, männlich und jazzhistorisch zentriert bin, beginne ich mit folgenden zwei deutschen Männern der dritten Generation: Achim Kaufmann und Uwe Oberg. Naheliegend, beide arbeiten im Untersuchungszeitraum mit den Schlagzeugern zusammen, anhand derer ich meinen theoretischen und spielpraktischen Zugang zu dieser Musik erarbeitet habe: der eine mit Christian Lillinger, der andere mit Günter Sommer, also mit jenen beiden, mit denen ich selbst ‒ durch veröffentlichte Audio-Datenträger dokumentiert[4] ‒ hörbar geworden bin.
I Deutsche Männer der dritten Generation: Kaufmann und Oberg
Wie schlagen sich nun Kaufmann und Oberg in diesem Format? Beide west-deutsch, Anfang ihrer 50er, beide sind miteinander über das gleiche Label verwandt, beide haben mit den Saxofonisten Frank Gratkowski und Matthias Schubert gearbeitet, beide verweisen mit Herbie Nichols und Thelonious Monk auf die gleichen kompositorischen Vorbilder und beide ‒ soviel sei hier schon vorweggenommen ‒ haben sich im Gegensatz zu den genannten Akteuren der ersten Generation für die Präsentation eines Klavier-Solo-Spiels entschieden, welches sowohl das Spiel an den Tasten als auch das Spiel im Inneren des Instrumentes kombiniert, vielfach sogar beides integriert ‒ Schlippenbach hat seinen vielleicht zuletzt genutzten Gegenstand, einen großen Schlägel 2010 auf seines Trios Winterreise jenes Jahres in Leipzig verloren.
Zunächst Kaufmanns Solo-Debut Knives[5] , welches er als 42-Jähriger eingespielt und wenig später auf dem renomierten britischen Improv-Label LEO veröffentlicht hat. 58 Minuten zerlegt in 18 überwiegend kürzere Stücke ‒ tatsächlich führt Kaufmann damit Spannung nicht in einem großen Bogen an. Kaufmanns Platte ist ein Album, zu drei verschiedenen Terminen an drei verschiedenen Orten aufgenommene Musik: ein bunter Mix aus Tastenspiel, dem Spiel im Inneren des Konzertflügels und dem Spiel mit dort positionierten zusätzlichen Gegenständen. Der Klang der Aufnahme ist ‒ bei diesem Verfahren naheliegend ‒ unausgewogen, der vom Klavier ‒ richtiger: von den Klavieren schlecht (mit jenen unangenehmen Höhen). Kaufmann zählt hörbar Folgendes auf, sammelt an: 1.: einzelne, spitze Töne ‒ Flow hinein, Melodiefragmente ‒ ziemlich nah mit meinem Spiel verwandt; 2.: abgedämpfte Saiten, flotter Basslauf, groove, flotter Melodielauf, der sehr stark an Joachim Kühn erinnert; 3.: diese kräftige Manier, im Bass fragmentierte Tonfolgen zu spielen, aufgefächerte Cluster, auch alles zwölftönig inspiriert ‒ dieses Stürzen über die Tastatur, welches auch solch horizontal schnell gewischte Bewegungen enthält, die ich bei Fred so meisterhaft konzentriert kennengelernt habe (und welche wohl auch Jacques Demierres Spiel kennzeichnen mögen); 4.: einzelne Akkorde, die mit abgedämpften und gezupften Klängen abgewechselt werden, Saiten mit zusätzlichen Gegenständen beschürft ‒ das ist natürlich für die Stimmung und damit für ein überzeugendes Tastenspiel der Tod; 5.: schnelles Flatltern in der Mittellage, Repetitionen; 6.: schnelle Tastenläufe, wobei etwas Leichtes, Flächiges auf die Saiten gelegt den derart typisch verfremdeten Klang ergibt, manche Töne abgedämpft ‒ Repetitionen; 7.: schnelle Läufe, virtuos ‒ einige Jazzakkorde dazwischen, flüchtig-hektisch ‒ das Klavier ist nun so verstimmt, dass mir schlecht wird beim Hören ‒ Cluster hier und dorthin geschlagen, mit perlenden Läufen durchsetzt ‒ die Kunst, so aufgezählt, bleibt unkonzentriert; 8.: wieder kleine Piekse hier und da, abgedämpft, klanglich modifiziert, einzelne Töne, langsame Läufe, einige Akkorde ‒ es fügt sich nichts zu einem einheitlichen stilistischen Entwurf, eher Müll; 9.: nur im Flügel: mit den Händen über die Unebenheiten der Saiten gestrichen, geschürft, bewegt, mal mit der Faust, dann leise, sensiblen Klängen zugeneigt; 10.: jazzmäßige Melodiefetzen, Akkorde, Begleitungen ‒ Jazz fragmentiert; 11.: Läufe in der Tiefe, in die Höh‘, über die ganze Tastatur, gefühlvoll, rund, recht nah an konventioneller Harmonik; 12.: Läufe ‒ er hat etwas Rasselndes auf einen bestimmten (vertikalen) Abschnitt des Saitenfeldes gelegt ‒ dann spielt er einen groovigen Basslauf und eine gesangliche Melodie dazu, da klingt dann von Ferne Keith Jarrett nach, oder eben wieder Kühn wieder: das ist geile Musik!; 13.: wieder Klirren im halligen Ruhrpott-Kunstmuseum, dann plötzlich wieder eine Jazzpassage; 14.: hier knispelt er wieder an den Saiten herum, wischt metallisch; 15.: einige sensible, zerlegte Cluster ‒ ganz nett; 16.: man hört, wie er einen Gegenstand holt und rasselnd auf eine Saitenschar legt ‒ flotte Läufe über die ganze Tastatur, etwas flirrend; 17.: hier sind die Tasten wieder clean ‒ mit der linken Hand ein flotter, später langsamer Walking Bass, dazu mit der Rechten, stark von getrennt, flotte Läufe; 18. :Akkorde, ruhig und verfremdet ‒ ein schöner Ausklang, hier, dabei hätte so ‒ eines der Kaufmann möglichen ästhetisch homogenen Felder ‒ die ganze CD sein können!
Die nächste CD, die junge, also die letzte, die Kaufmann mit 53 eingespielt hat: Later[6]; da hat er aus dem Vorherigen gelernt: die Aufnahme an nur einem Ort, nur zu einem Termin eingespielt; auch die Anzahl der Stücke ist um ein Drittel reduziert, dennoch sind 56 Minuten immernoch durch 12 geteitl ‒ alles mittelkurze Stücke ‒, ein großer Spannungsbogen ist also auch hier kaum zu erwarten. Die Freude über den Klang dieser Aufnahme ‒ weich ‒ und des Klaviers ‒ gut ‒, ist indes sofort ausgelösscht. Kaufmann spielt sehr jazzig, rund, Akkorde, perlende Läufe ‒ nur am Ende den Dämpfer des tiefsten Tones (1), er spielt verträumt (2), begibt sich auf melodisch-harmonisch ausgewogenen Erkundungen (3), ganz offensichtlich jazz-traditionell (4), mit Pedal, impressionistisch auf eine sehr einfache Jazzmanier, bisweilend rollend-swingig (5), lässt eine Melodie wenigstens einmal keck hüpfend, mit tastender Begleitung im Bass (6), traut einmal einer einleitenden Folge avantgardistisch-wohlklirrender Akkorde über den Weg, die mit dosierten Ritardandi und Trillern gestaltet werden (7), manch avantgardisch hineinspielender Verdichtung, oft impressionistisch dargeboten (8) gesellt sich ein Anflug von Dollar Brand hinzu (9); nach gänzlich an traditionellem Jazz geschulten Melodie-, Harmonie- und Rhythmus-Kombinationen (11), endet Kaufmann in einer träumerischen Melodie (12). Hatte er mit Knives noch versucht, Spielweisen einiger der zentralen Akteure der ersten Generation zeitgenössischer Improvisationsmusik haarscharf in Eigenem aufzuheben, scheint er später bemerkt zu haben, dass ihm dies unerreichbar bleibt. Mit Later legt er eine Piano Solo Musik vor, die von jedem beliebigen Jazzpianisten eingespielt sein könnte. München eben. Unter oben genannter Maxime ist diese Scheibe völlig uninteressant.
Uwe Oberg nun, ha!, tritt nun ganz anders auf, jüngst, 2012 und ’15, d.h. mit 50, 53 eingespielt: Twice, At Least[7]. D.h. auch er ‒ ebenso für LEO ‒ teilt leider die 58, wenigstens nur durch 7, ‒ und die Anzahl der Orte beträgt nur 2 (wenigstens in einer Stadt). Die Klangerscheinung: erleichternd, erleichternd durch Schönheit, Oberg: sehr konzentriert und abolut souverän (1). Diese Akkordrepetitionen, dicht gegriffen, harmonisch souverän moduliert, die Saiten abgedämpft (wie auch Kaufmann es gut kann), ein Bass kommt dazu, ‒ es ist eher diese Zustandsmusik (wie sie Baby als sein von Saties meublement bezogener Inbegriff Neuer komponierter Musik gern bespricht und praktizierend vertritt), klanglich mit Eingriffen ins Innere - Oberflächenstruktur, also auf die Saiten wirklich fein moduliert, feine motivische Arbeit - Oberg figuriert arpeggioartig, modal angefedert, nicht ohne Swing, Akkord-, simultane Ton-Zusammenstellungen mit einer Klasse, die jene von Schlippenbach am Horizont erahnen lassen. Auch der Klang der Aufnahme und der vom Klavier ist schön und dicht, konzentriert. In einem Wort: exquisit ‒ ‒ doch dann, plötzlich, tropft aus dieser hehren Einstellung traditioneller Jazz ab, perlt. Hier ist der Jazz der Tropf in der zeitgenössischen Musik. Ein Autodidakt, der bis zur Brust im Fruchtwasser der Neuen Musik steht, ist vielleicht stolz, sich leisten zu können, auf diesem Fahrwasser zu strömen. ohne Not in eine Nummer gepackt ‒ die Möglichkeit eines großen Bogens liegt also jetzt schon darnieder. Kaufmann, als müsste er zeigen: ich kann dies, ich kann das, ich komme aus der Neuen Musik, bin zwar kein Vollblutjazzer, kann ihn aber auch ganz gut… ‒ ohne Energie jedoch, ohne schlagende Spannung (2) ‒ ich muss sagen: auch bei Oberg plänkelt es dann doch so wie zuletzt bei Kaufmann. Für ein Solo-Album zeitgenössischer Klaviermusik ist traditioneller Jazz natürlich übel: sowohl melodisch ‒ ganz traditionell die rechte Hand verperlt, dazu einzelne Töne mit der Linken im Bass und dort auch ‒ also auch harmonisch: Folgen konventionell: Akkordbegleitung; ganz klar links und rechts geteilt, balladesk, wenngleich der Versuch aufzubrechen bleibt, aber ohne überzeugend zu gelingen. Durch die Mischung von arpeggioartigem Tastenspiel und zupfender Aktion im Inneren ‒ Oberg nimmt den offenen Raum ins Visier, bleibt aber völlig erwartbar ‒ bleibt auch das nicht aus: das Klavier verstimmt (2). Dabei spielt er gar nicht: Oberg fällt während des Musizierens nichts ein, er hat sich vor der Aufnahme Folgen bestimmter Einzeltöne ausgedacht, im Vorhinein wohl gar geübt ‒ es klingt dann beinahe musikschulmäßig, etwas bemüht nach Geklimper (3). Es ist dann nur folgerichtig, als Kompositionen lesbar gemachtes Material Dritter zu präsentieren (3). Die Stärke von Obergs solistischer Klaviermusik scheint in delikaten Klang-Tänzen auf, Kombinationen aus Elementen des inneren Flügels und dort aktivierten Objekten ‒ vielleicht Zither und Daumenklavier ‒, gekonntes Einzelsaitenglissando - auch hier organisch schwingend, nicht so frappant wie die isolierten Einzelereignisse in Neuer, streng komponierter Musik ‒ herrlich! (ich fühle mich an Gumpert im 2009er, Inside Outside Shout genanntem Duo mit Baby erinnert); Oberg zeigt seinen Reichtum, aber auch hier wechselt er wieder nach der Hälfte zu Akkorden, die impressionistisch-jazzoid arpeggiert und repetiert werden; auch hier also gelingt ihm keine ästhetische Konsistenz, vielmehr verspielt er sich in einer Folge von Einzeltönen ‒ kitschig: harmonisch trivial und rhythmisch einfältig (4). Oder Oberg hebt gleich in einer Art sprudelndem Tatums an, links aus der Tradition des Jazz geborgte Harmonien, akkordisch zur Begleitung der Melodiefetzen rechts, versetzt kommentierend mit virtuosen Dekorationen, die in extrem schnell hoch und runter laufenden Arpeggien aufgelöst sind (5). Es bleiben Obergs Kombinationen von Tasten und Innerem, die faszinieren, perlende Töne, iritiert, irrisiert von kleinen Bällchen auf den Saiten, es klirrt in der Tat brilliant ‒ aber auch hier: die Kunst nur als Intro positioniert, als Hauptteil wieder für Jazz mit Melodietönen rechts, Basstönen und Akkorden links, zwölfönig wippende Chromatik auch mal mit Clustern angeschärfte Perlen ‒ das klingt schon gut, wenn er sich auf seine eigene Erfindungsgabe verlässt, die scheint aber nicht mehr so ganz frisch zu sein. Wieder gebrochene Akkorde, die er offensichtlich gerne spielt, auf die er hängengeblieben ist. Das klingt dann manches Mal beinahe nach der Lieblingsmusik von Klavierschülerinnen im frühen Mädchenjahr. Natürlich verschärft er die Harmonik, so dass diese weglaufen. Indes Künstler kommen nicht hinzu. Das Klavier ist mittlerweile auch verstimmt. Letztlich bleibt wieder ein völlig inhomogenes Stück; da ist keine Kraft, um eine eigene Ästhetik tatsächlich in sich kohärent aufzuspannen (6). Oberg hat zweifelsohne Geschmack, aber keinen Biß. Das Album schließt mit Akkorden ohne Scham, ein Standard im Jazz (7). Die zeitgenössisch improvisierte Soloklaviermusik in Europa setzt sich sicherlich nicht wie er in ein westdeutsches Restaurant und spielt eine Barbolivarballade. Wie Kaufmann in München geht es also auch Oberg in Wiesbaden.
Aber wie ist es Oberg in Saarbrücken ergangen? Er stand für 2015 vor dem selben Problem wie ich mit meiner Yamaha-Aufnahme vom Juni 2015 aus Leipzig und meiner Steinway-Aufnahme vom gleichen Monat aus Dessau: zwei Solo-Platten gleichzeitig veröffentlichen zu wollen. Nur war er in Saarbrücken schon 2008! Welchen Charakter hat die von Oberg 2015 veröffentlichte Klaviermusik, die HAT HUT veröffentlicht? Die Freude ist groß: das Solo von Work[8] ist an einem Tag aufgenommen!, an einem Ort! Hier sind die 58 Minuten durch 6 bzw. 9 ‒ die Praxis von Oberg in eine Nummer mehrere Stücke zu kompilieren kenne ich schon ‒ geteilt. Mittellange und mittelkurze Stücke, wie bunt wird hier der Mix? Oberg beginnt mit einem seiner mittelkurzen Stücke, wir haben wieder das Glück eines brillianten Klangs ‒ von Klavier und Aufnahme gleichermaßen ‒ es klingt konstruktiv, ‒ eine Jazzkonstruktion! Oberg beweist einmal mehr sein feines Gespür für akkordische Zusammenhänge; manchmal klimpert’s bloß, dann wiederum geradezu irritierend: dieser rhythmisch-melodische Duktus, mit rasanter angezogenen, bluesigen Läufen (1). Ja, Blues mag er, da kann auch das Klavier verstimmt sein ‒ dass es schon beim zweiten Titel verstimmter ist als nach dem kurzen harmlosen ersten macht hörbar, dass die Stück-Reihenfolge auf der CD kaum der Reihenfolge des Konzertes entspricht. Aber man muss sagen, Oberg macht hier, sich explizit an kompositorischem Material Charles Mingus‘ abarbeitend, große Freude: er ist ein exellenter Bluespianist. Hier flanscht er in etwas intellektueller Steife noch eine Interpretation einer Ornette-Komposition an (2). Dann gäbe er zehn Minuten sein pur eigenes Spiel: nun, es sind in der Tat zunächst wieder rhythmisierte Akkord-Verschränkungen die Oberg’sche Originalität ausweisen, mal repetetiv figuriert, mal durchaus zwölftönig angedichtet, dann aber ziemlich in den Blues gesteckt. Und ein Lauf ist so kühn wie Kühn ‒ also gar nicht so kühn. Manchmal stellt sich eine Leere ein, die nicht anregt oder öffnet, sondern einen angestrengten Geist entblöst. Nur einen Moment lang öffnet sich Obergs Spiel: in einem Dialog zwischen einzelnen über die Tastatur aktivieren Tönen und einzelnen Gezupften, nur leider zieht er sich schnell wieder in recht triviale Folgen zusammen. (3) Wie schon bei LEO setzt sich auch hier Oberg Monks Barhut auf, hat ihn aufgesetzt. (4) Dann gibt es ‒ Gott sei Dank! ‒ wieder Obergs echten Gott: ihn selbst, es gibt einen echten Oberg 10 Minuten lang: hier positioniert der hohe Klavierspieler zusätzliche Gegenstände im Inneren des Konzertflügels ‒ es klingt ähnlich des vierten Stückes der LEO-CD (Magnetic Wood) ‒ man sollte deshalb unbedingt über mehrere CD-Player und mehrere Räume verfügen, in jedem Zimmer seiner Wohnung einen Oberg anzutreffen; nur deshalb hat Oberg Glück gehabt, 2015 diese beiden Solo-CDs zu bringen!;: punktuelle Ereignisse, die federn, die so herrlich schweben wie Baby in seinem spätes Meisterwerk mit Wadada! (Wisdom in Time): das Perkussive mit bezaubernd schrägen Saitenklängen bewundern und belinden ‒ Wunder belinde. Oberg spielt durch diese Präparationen den Flügel wie ein Daumenklavier aus Space. Das ist wirklich Oberg, und deshalb heißt das Stück auch wie sein Solo-Debüt-Album: Olo Olo. Danke! Hier ist jeder Klang der Stunde hehren Lebens eingeborgt. Auch hier dockt Oberg sein Eigenes programmatisch an dem Werk anderer an. Nun. (5) Ein zweiter Monkhut sitzt Oberg bar.
Wie aber hat Oberg seine Solokarriere begonnen? Sein Debut hat er schon im Alter von 31 Jahren vorgestellt: Olo Olo[9]. Die Grundstruktur scheint hier wieder ähnlich zu sein: statt 58:7 oder 58:6 sind es jetzt auf 54 Minuten 7 Stücke ‒ also auch kein großer Spannungsbogen zu erwarten. Der Klang der Aufnahme und vom Klavier ist sofort dünn.. nunja… das erste Stück geht gleich mitten aus der Mitte raus und los, im freien, aber doch noch beschwingten Rhythmus, Angeclustertes ‒ auch hier schon ein wenig Blues ‒ einzelne Töne, ein paar Triller, ein paar Rutschen, alles gleichmäßig über die ganze Tastatur, die Totale spielt also durchaus mit! Gut so. Dabei bleibt die Musik etwas träge, so richtig flink war Oberg nie. Aber ja, hier ist Oberg ‒ genauso wie zehn Jahre später Kaufmann zu seinem Debut ‒ noch inspiriert durch das freie Spiel der Ersten ‒ ich höre vor allem Schlippenbach ‒ wobei: da!, einige Clusterattacken, die in ihrer Gegenläufigkeit doch eindeutig am amerikanischen Original orientiert sind! (Ob Oberg damals davon geträumt hat einst zwei Solo-Alben gleichzeitig auf zwei Labels zu veröffentlichen, die beide Aufnahmen mit Cecil Taylor produziert haben?) Das zweite Stück geht gleich ins Innere, ans Streichen der Saiten, hier rührt Oberg zart Schwebendes schon an. In Meisterschaft wie dann zwanzig Jahre später noch. Getockt, geschürft, ‒ fein fillifiddel-zwirb und immer wieder Pläng. Und abgedämpft! Und Zauber… Da fehlt dann der dritte CD-Spieler! Hier würde sich die Anschaffung lohnen. (Hier im Geschichtszimmer der Biografie des Spielers.) Weiter geht es mit den flotten Tastenläufen bei präparierten Saiten: die schnellsten Metalltrommeln, dazu auch die Saiten selbst in höchster Nervosität tiriliert. Hier herrscht Stadt in der flinken Bahn. Das ist richtige Musik! Hier ist jemand, der sich gerade in die Musik hineinbegeben hat. (3) Im vierten Stück ergießt sich Ober in sensible Tonfolgefindungen, zum Teil mit Materialien auf den Saiten liegend. Er hat Zeit und lässt immer den Moment mitsprechen (von Cage und Feldman inspiriert). Diese Stille hier ist immer eine Einladung. Diese Musik, dem Titel nach, das, was Oberg findet, ja ‒ die kann andauern. Und das schöne ist, dass sie auch im nächsten, dem fünften Stück andauert. Hier gibt es einen anderen Modus des Findens, stärker mithilfe von Materialien auf den Saiten. Aber im selben Fluß des freien und intensiven Musizierens ‒ das ist Arbeit, das hier ist Work, das ist Obergs Werk! Dieser Oberg darf sich mit Leimgruber treffen. Beim sechsten geht es etwas agiler, gewitzt weiter: flotte Tonfolgen pulsieren ‒ kontrahieren und relaxieren; durchsetzt sind sie mit Präpariertem, und der flinken Hand im Inneren. Fingernägel. Und zum Schluss das Olo-Gamelan. Die Zaubertüte aus Fernost/West-Germany. Obergs hohe Kunst. Hier darf sie sein. Organ. Und da ist er auch Virtuose ohne Abzug.
II Europäische Frauen der fünften bzw. vierten Generation: Borchert, Draksler, Risser ‒ und Mayas
Nach den beiden west-deutschen Männern der dritten Generation höre ich drei europäische Frauen der fünften Generation: Johanna Borchert, Kaja Draksler und Eve Risser. Letztere, im damals bevorstehenden Wiesbadener Konzert, hat mir auch Oberg angekündigt: möglicherweise wird auch er sie hören! Draksler und Risser sind beide auf jenem Label erschienen, auf denen Kaufmann mit Lillinger zwei Trio-Platten vorgelegt hat; und Borchert ist auf dem Greifswalder Label von Lilli.
Borchert teilt 2011, mit 28 Jahren ‒ damit ist sie die Jüngste der hier erkundeten Solo-Pianisten ‒ Obergs Debut-54 durch 13. Alle Stücke ihres Orchestre Ideal [10] sind an einem Ort, aber während mehrerer Tage aufgenommen. Auch hier ist also kein großer Spannungsbogen zu erwarten. Auch sie bietet eine Sammlung von Beidem: Tasten und das Innere sowie zusätzliche berührte Gegenstände, in mittelkurze Stücke gefasst. Der Klang der Aufnahme und vom Klavier ist gut. Borchert beginnt ganz sensibel mit einem repetitiven, zart abgedämpften, gleitend obertönig modulierten Saiten-Klang; sie ist rhythmisch, im Inneren, melodisch und harmonisch versiert (1). Beim zweiten Stück trifft Borchert nun auf sich selbst, durch die Studiotechnik vermittelt, im Nacheinander eingespielte Ebenen, eine komplexe Komposition ‒ hier wird kein musikalisches Material aus dem Moment improvisatorisch entwickelt. Es ist, wie der Titel des Albums sagt, ein Orchesterstück, irrelevant für die Intention der in diesem Artikel leitenden Erkenntnis (2). Ähnliches gilt für das dritte Stücke. Natürlich zeigt sich bei diesen Arrangements ihr feiner ästhetischer Sinn und ihr handwerkliches Können (3). Dann gibt es Jazz, sensible Akkordwechsel, die harmonisch recht traditionell eingefasst sind; Melodietöne gruppieren sich im balladesken Rubato. Ein Rubin, der in organischer Harmonie Pulse ausstrahlt und immer risikoreiche Dissonanzen einbindungsreich ermöglicht, sich zu familiarisieren (4). Schließlich rührt Borchert nicht nur die Saiten des Konzertflügels im Inneren an, sondern stellt die Zither als damit eng verwandtes Familienmitglied in die Klaviermusik ein: wie auch ich, anderenorts und zu anderer Zeit, erfreut sie sich an deren plötzlichen Spring-Glissandi (5). Tonfolgen kann sie nahe zwölftöniger Konzentration mit großer Meisterschaft beinahe fugal ausweiten und zu einer immer gespannten Performance brillantieren (6). Borchert dialogisiert weiter beiderlei Saiten: vom Konzertflügel wie von der Zither, hier als Intro zu einem overdubten Großorchesterstück aufgebauscht (7). Borchert formuliert mit ihrer Solo-CD keine Strenge Arbeit an dem Kontinuum der Linie improvisatorischer Heroen, sondern offenbart das Interesse an Größerem: eine kraft des Instrumentes generierbare Musik, die filmisch breite Dimensionen auditiv eröffnet. Auch sie weiß um die perkussiv metallisch zaubrischen Trommeln, die das präparierte Klavier in der Zeitgenössisch Komponierten Musik der letzten Jahrzehnte gelernt hat (8). Borchert schafft wundervolle Klänge, einzelne über Tasten aktivierte Klaviertöne werden mit Klängen aus dem Inneren des Flügels durchsetzt, immer organisch integral. Dabei sind sehr jazzige Melodien und Harmoniefolgen ein Fluidum, in dem ihre Seele sinnt und schimmt; ein recht großer, warm hallender Raum aus dem Toningenieurszentrum prahlt dieser Musik eine Konvention von Praline an, so das auch im Jazzclub amerikanisch arglos akademisierte Studenten oder Eintrittskarten erwerbendes Abendgarderobenpublikum ergriffen seien (9). Das zehnte Stück hätte das Zeug, stringent auf eine Stunde ausgeführt, eines der größten Klavier-Solo-Alben Zeitgenössischer Improvisierter Musik zu werden. Hier ist die Kunst und seine Klasse (10)!! Dann kommt, wie es sein muss, in diesem Album, wieder eine Melodie ‒ Schumann ‒, variiert, sparsam begleitet, ein minimalistisches Abendlied, tatsächlich (11). Im Gegensatz zu Kaufmann und Oberg muss sie sich nicht mit jazzmusikalischen Vorbildern aufhalten.
Noch jünger als Borchert, mit 26 Jahren debutiert, ist Kaja Draksler: The Lives Of Many Others [11]. Sie teilt eine kürzere Gesamtdauer, 42 Minuten, ‒ aber auch nur durch 7. Nun, mit einem großen Spannungsbogen ist aber auch hier nicht zu rechnen. Draksler eröffnet nun ihr Klavier-Solo mit einem konzentrierten Schürfen: mit in der Hand gehaltenem metallischem Gegenstand auf recht dicken, hörbar gerillten Saiten geschürft ‒ wenn sie so beginnt, sind alle weiteren, möglicherweise mit bloßen Tasten-Tönen zu erringenden Stücke ‒ wären sie auf der CD entlang der Chronologie der Aufnahme angeordnet ‒ verstimmt. Sie verdichtet das Schürfen dann zu einem geschürften Rhythmus, großartig! ‒ bliebe es so 42 Minuten lang, hätte sie ein ganz großes Werk vorgestellt. Das Schürfen wird aber schnell wieder kleinteiliger, doch mit Geschmack. Geschmack hat sie. Draksler überführt die Perkussion in helle Glöckchen, dazu auf einer weiteren Ebene: andere Perkussion. Das alles ist herrlich entspannt und organisch, Draksler ist zum liebgewinnen. Nun sind da auch schon die erwarteten bloßen Tasten-Töne ‒ verstimmt, aber nur sehr leicht (sie hat also noch nicht lange geschürft), sie ordnen sich zu träumerischen Folgen, tatsächlich Amelie ‒ nichts weiter als Amelie, Amelie Draksler. Schade. Harmoniewechsel im Ganztonabstand. Uiuiui. Doch frei gespielt, mit Geschmack drüber improvisiert, ‒ es bleibt ein Song, der durch Schürfen wieder eine Geräuschebene dazubekommt ‒ zum Ausklang. Die zeitgenössische Kunst ist hier als Rahmen disponiert. Das zweite Stück setzt eine melodische Tonfolge in die Welt, einzelne Basstöne begleiten ‒ das ist ein langsamer Keith Jarrett. Draksler hat für diese Funktion ihre Rechte, für jene Funktion ihre Linke. Es ist ganz toll: dieses Stück, diese Leichtigkeit!, man wünsche sich diesen Fluss einer Ewigkeit entlang, wenigstens doch für eine Stunde. Das wäre dann Keith Jarrett, sie ist soo sensibel, mit unendlich viel Geschmack entlang der größten Werken von Jazz und Klassik. Wundervoll! Leider dauert Keith Draksler nur fünf Minuten an. Beim dritten Stück greifen beide Hände dann doch ineinander, Mehrklänge, mit stürmisch gehacktem Habitus, sehr fein und virtuos, mit Sinn für das Grenzspiel, sie ist für einen Augenblick Alexander von Schilppenbach, Kaja von Schlippenbach ist orientiert und im rhythmischen Dunkel fett bis fetzig gemunkelt. Yeah. Sie kann man buchen. Diese Clean Feed-Produktion ist des Hörens wert. Ein eleganter und geschmackvoller Mix aus Tasten und Innerem mit weitgehend überzeugenden Darbietungen ausgefeilter Materialdispositionen und Handlungsmodi. Nach dem Moment Clusterattacken, die schon selbst spätromantischer Herkunft sich bezeugten, schwingt das Stück dann in ganz sensiblen Bögen und Schleifen klangvoll hallend aus. Viertens zeigt Draksler eine ganz repetitive, flüssige Begleitung zu rhythmisch seriell vertrackter Melodieeröffnung, chromatisch weitgehend durchwirkt, bluesig angezüngelt ‒ ihr Finger: die Sinnlichkeit einer geübten Zunge, meisterlich diese Frau!, in allen Registern. Sie könnte jetzt in den ganz großen Wurf einbiegen ‒ hier ‒ ‒ die ganze Totale perlend weich verflirtet (‒ bis sie ein Stück unveröffentlichten Birg Borgenthals bringt, wo der Kettlitz abenteuerlich die Welt im Achtungsstillstand anruft, damals). Von diesem exorbitanten Off schlägt Keith kurz den Hauch auf einen Heimweg. Es macht einfach Spaß, ganz Ohr ihrer rhythmisch-melodischen Charakterfigur beizuwohnen. Sie hat nie den Kopf, sondern das musikalische Gefilde parat, immer im Präsens angekommen. Der Klang des Klavieres ist zwar leicht dünn und leicht verstimmt, aber gut genug, um gut zu sein. Draksler kann improvisierten, einzelne Töne verteilen ‒ Pedal verwendet sie recht häufig ‒, akkordisch kommentieren, irritieren, attackieren ‒ auch hier gibt es einen längeren Moment, bei dem verdichtete Akkorde in freien, einander komplex verschwimmend impulsierenden Bewegungen ein Meisterwerk anheben könnten ‒ indes endet das ganze Stück schon nach knapp zwei Minuten! Ihre beim Sechsten flott aufeinander folgenden Töne erinnern etwas an meine Kunst, wobei sie schnell viel mehr Jazz hineinnimmt, es also liebt, die Töne in harmonischen Gruppen anzuordnen. Das ist live, nicht ganz so konzentriert wie das andere. Power Chords zur Unz’friedenheit meiner. Mit einem melancholisch seltsam zwischen völlig düsterer Entrücktheit und lieblichem Glanz schwebendem Melodie-Akkordbegleitungs-Konstrukt rundet Draksler ihr wertvolles Album ab. Das hier ist sehr gute Klaviermusik, der Wille zum absolut Unbedingtem Zeitgenössischer Kunst geht Draksler aber ab.
Eve Risser nun, ebenfalls und jüngst auf Clean Feed erschienen, präsentiert mit 31 Jahren ihr Debut Des Pas Sur La Neige [12]: sie könnte den Bogen raushaben, teilt 65 Minuten durch 3 ‒ ihr gelingen zwar keine 80, 60 oder 40 Minuten umfassende Spannungsbögen, aber immerhin ein Maximum von 36!! An einem Ort aufgenommen, hat sie die Versuche zu vorliegender Auswahl wahrscheinlich an mehreren Tagen realisiert. Risser beginnt mit der tiefen abgedämpften Tastensaite, dann hat sie auf dem mittleren Register etwas liegen, das zittert; auch etwas, das schürft ‒ einige, wenige reine Tastenakkorde dazu ‒ auch sie kultiviert die Integration von Beidem, Tasten und Innerem. Bei ihr zeitigen Glockenklänge, klirrendes Schürfen, Zittern und Repetitionen, feldförmige Geräusche und gebogenes Quietschen simultane Ebenen einer imaginären Landschaft, kontemplativ, in sich ladend, wurbernd, zschärelnd; sie stößt gern an hölzerne Korpusecken oder -flächen; ein mittelhoher Akkord, repetierend, dialogisierend mit weichgeglockten Basspulsen, fremde Klänge ‒ immer eine leichtschwebende Dynamik in den Gesprächsvierteln, Schritte und Bahnen zwischen den Feldern, singuläre Klirrglocken und Tockknüllbrüter, latente Verdicht- und Lösungen; immer neue Zutaten in den Topf, ohne Süd zu verlieren, auch Knisterndes, Knirschendes; schiefe Schnüre im Elektrozad, dennoch chinesische Eßstäbchen, die sich beim Bau dieser Musik konstruktivistisch dem Ohre zugeneigt haben. Rissers Solo-Klavier ist eine eigene, ästhetisch völlig souverän sich verhaltende Frage, eine völlig fraglos eigene Aussage. Eine eigene Landschaft, die, ohne Referenzen aufzudrängen, einlädt, eingeladen zu sein. Dabei ist dieses fruchtbare Feld so intensiv und stringent, dass sich die Vermutung aufdrängt, Risser hätte mit Overdubs gearbeitet. Langsamer Triller, insistierend, wirklich ein tastender Kontrabass dazu. Und am Ende ein little instrument, welches definitiv elektrisch surrte. Das zweite Stück beginnt punktuell, Tropfen, auch der Klang eines lang angehaltenen Tones, wieder Gamelan; Uhren, Porzellan, Plastik ‒ im Fluidum…, auch hier wieder das Topfdeckel-Quietschen; auch die Saiten wie fernöstliche Zitherschar; dann das Brechen von Holz, es klingt jetzt immer mehr wie ein mit den Möglichkeiten der Studiotechnik arrangiertes Feld von mit dem Konzertflügel und einer Vielzahl von Gegenständen erzeugten Klängen. Erkennbar auch der obligatorische Milchaufschäumer; die Perkussion wie mit Holzbauklötze hingestellt ‒ faktisch Saiten, hier und da ein kleiner repetierter Akkord oder ein Arpeggio. Die typische Verdichtung, wenn verschiedene, an verschiedenen Zeitpunkten eingesammelte Klangflächen übereinander gelegt werden und sich durch lose Wiederholungen Muster ausbilden, Ebenen hinzutreten und wiederweggestellt sind. Mit den bloßen Tasten regt Risser nur einzelne kurze Motive. Das dritte Stück, das längste auf meiner Erkundung bis her, beginnt wahrscheinlich mit einem sogenannten E-Bow ‒ ich habe noch nie einen in der Hand gehabt, elektronisch auf- und abschwellende Fläche, wie ein kleiner Hubschrauber mit tieferem Summen und höher hineinstrebenden Frequenzmodulationen. Entrückender Sog zwischen zwei Ohren und der längsten Strecke vom Gehirnnirwana ins Mirligurlindustan. Keine Linie, die sie biegt…, in dieses Feld, additiv oder subtraktiv gehalten, setzt sie nach Minuten einen klirrenden oder schürfenden Gegenstand oder die Repetition der immer selben Tasten, noch eine oder zwei andere hinzu... die von Risser beigesteuerten und gesteuerten Ereignisse sind immer inventiv und künstlerisch klar geformt. In diesem Sinne klingt das Album auch gut. Risser präsentiert das Bild eines wunderbaren, mit elektronischer Hilfe bestellten Spielfeldes.
Nun darf man neben diesen dreien, eine nicht vergessen: Magda Mayas, noch Ende der 1970er geboren, ‘79 wie ich, und sie legt gerade im Untersuchungszeitraum bereits ihre zweite Solo-Platte vor. Sie habe ich bereits live gesehen, vor zehn Jahren, ‒ noch auf dem TMM, 2005, kurz vor Schluss! und war hin und weg!, und sie, zentrale Akteurin der vierten Generation, ist es auch, der ebenso längere Bögen gelingen! Ihr Debut hat sie, ebenso wie die zuvor genannten, noch in ihren 20ern vorgelegt: Heartland [13]! Da ist es: hier sind die 50 Minuten nur durch 2 geteilt, ‒ hier sprengt ein Stück die Halbstunden-Marke! Trotz zweier Termine, zweier Orte also ein langer Spannungsbogen erwartbar. Zunächst der kürzere der beiden langen: Die Eröffnung ist frappierend: ein kurz und schnell hochquietschendes Glissando ‒ Reiben an der musikalischen Streichholzschachtel: Mayas entzündet ihr Solospiel ‒, dann der tiefe Glockendruckpunkt: die mit dem Finger abgedämpfte, mit der Taste angeschlagene Bassseite, gefolgt von einem als kurzes Tonfolgenmotiv differenziertes Quietschen. Höhere Saite angezupft, wieder glissandierendes Reißen, Quietschen ‒ diese Elemente werden repetiert, durchmischt. Flageolett hier, Quietschen dort, Saitenglocke, Harfenstreif. Vor allem Innenklavier, ‒ das Innere des Klaviers liegt ihr am Herzen! Einmal gelingt ihr ein Knarren, welches dem Flatterzungenspiel eines meisterlichen Saxofonisten ähnlich klingt. Dann räumt sie auf, hat weggeräumt, einzig eine lose Folge abgedämpfter Basssaiten bleibt übrig… ‒ sie lässt daraus einige Streifen fließen, und vorwitzig aufgipfelnde Zipfen, lind befellte Tupfen, rhythmen. Mayas dirigiert ein perkussiv streunendes Orchester im Schwebeall. Zipf, Tipf, ‒ ein komplex wie Maschinendrahtkreiseselchen rinnendes Zupfmuster, darunter Schnarchen, dann pocht der Holzklopfkoch. Auch hier dringt ein Milchaufschäumer oder dessen kleine Schwester mit kleinem Drehmoment ein. Die Girlande von Blechschmieden hält einem aufgeweichten Gamelanorchester die Tür zum Miniaturenuhrwerk auf. Unterhalb der U-Bahn wird erfolgreich weitergeschnarcht. Wer sägt denn da am Ast? Wer wippt welche Schüssel in die Saite? Muroma Müller hat ihre Zwiebelsuppe eingelegt. Mit dem Rumoren beginnt auch der längste Zug zu quietschen. Riesige Vorhänge schielen an verlassenen Bunkern scharfe Wände ein. Da das Quietschen periodisch ist (und lediglich durch poch- und puckgewaltige Stöße unterbrochen wird) liegt ein Schieben näher als der mögliche Effekt des anderenspielers bekannten Topfdeckelkreisens. Rund quietscht sich die Linie des Stückes mit einem quietschenden Aushauchen aus. Das zweite Stück beginnt: sie bleibt beim Innenklavier, sie bleibt beim Metall, sie bleibt beim Quietschen (nun in einer anderen Frequenz), sie bleibt bei der mit Finger abgedämpften Basssaite, sie bleibt bei prägnanten Knacken, einzelnen hohen Tönen, sie bleibt bei einem schnell mit einem Kamm abgezogenen Zisch, sie bleibt bei einer Rundung, bei einem Glissando, bei einem Zittern im Saitenfeld. Es sind zwei Monate vergangen. Die Klavierspielerin versammelt sich in einer anderen großen Stadt. Magda Mayas 2008. Sie kämmt das Klavier, dessen Feld im offenen Flügel zur künstlerischen Fläche wird. Das Spielfeld in Berlin ist noch größer als zuvor in New York. Es ist eine taktile Kunst: die Kunst Oberflächenstrukturen miteinander ins Gespräch zu bringen und dabei die Klangpotentiale der zugrundeliegenden Materialvielfalt zum Sprechen zu erwecken. Eine taktile Kunst, welche die feinziselierten Bewegungsfertigkeiten der Spielerin musikalisch sich ergeben lässt. Bei 6‘04‘‘ bringt Mayas wieder das komplexe Maschinendrahtkreiseselchen rinnende Zupfmuster. Danach rieseln die einzelnen Klänge wie Tropfen lose beschwingt: das ist ein wahrer Körpertanz: die Schar eines tausendfältiges Orchester: jeder Musiker ein Klang, jeder Klang die Skulptur eines singulär modellierten Hörfrequenzkomposits. Ihr Anspruch erfüllt sich, wenn es ihr gelingt, mit einem dynamischen Strom an Klangereignissen die erzählerische Dimension eines imaginären Erlebnisraumes zu öffnen. Ab 11‘20‘‘ entfaltet sich über ein bordunartig minutenlang wabernd ausgebreitetes Klangfeld hinweg eine enorme Sogwirkung. Zu Beginn der neunzehnten Minute ist mir klargeworden, dass Mayas einen besonders dynamischen Körper auf die dünnsten, kürzesten Saiten fallen, d.h. springen lässt und dadurch diese sehr hohe, dynamisierte Ton-Folge entsteht, und: sie diese Klänge kombiniert mit Stößen auf den Resonanzboden. Bei 18‘30‘‘ setzt sie zum ersten Mal in diesem Stück zur Entwicklung eines neuen komplexen Klangfeldes an: es ist sehr transparent, wie sie allmählich verschiedene Qualitäten zueinanderwirkt. Ihr zweitens anhebender Strom breitet mein Bewusstsein zusehends in die Form einer psychodelischen Elegie: ein Schaben, ein Schüttern, welches entgrenzt. Zum Schluss brennt die Schüssel, den letzten verzerrten Wisch schlingert die Eisenbahn an einem Halm vor’m Gartenzaun ab. Es ist wahrscheinlich, dass Mayas als Spezialistin für das nicht extrahierte Innenklavierspiel sich keineswegs hingesetzt hat, sondern stehengeblieben ist.
Ihr zweites Solo-Album Terrain [14] teilt 10 Minuten weniger durch zwei Stücke, die ebenso wieder an zwei verschiedenn Orten zu zwei verschiedenen Terminen aufgenommen worden sind. Auch hier generiert sie wieder ein Feld aus im Inneren des Konzertflügels mit zusätzlichen Gegenständen erzeugten Klängen ‒ auch hier wieder lange Stücke, die eine spannende Geschichte, Klangabenteuer, erzählen, ‒ die Dynamik des einen großen Spannungsbogens ist nicht intendiert. Auch hier ist wieder der Klang der Aufnahme und vom Klavier gut…, aber: ‒ ‒ ‒ O Seite 1! Der Gesang ist noch größer geworden, noch zarter!! Es ist so ein Geheimnis, dass ich es nicht mehr lüften kann. Es sind wieder kreisende Obertöne, dynamische Flageoletts, die sie aber mit klassischer Präparation verknüpft. Danach ist es noch geheimnisvoller, es rappelt raschlig. Dann reibt sie und schlägt wie Todesgeläut tiefe Saiten an, dass was schnarrt. Mayas spielt zum ersten Mal einen klaren Klavierton. Eine Erlösung, ein himmlischer Wink. Sie verschweigt ihn aber bald wieder. Dann hört es sich ganz klar nach einer gestrichenen Saite an . Dann quietscht es in den Angeln, Magda gelingt ein bezaubernder Cluster. Terrain ist noch konzentrierter als Heartland. Zum Teil habe ich jedoch das Gefühl, dass nicht jeder klare Klavierton sich von ihr intendiert ereignet. Seite 2: ein anderes Stück ‒ zum einen ein repetiertes Geräuschglissando, zum anderen: höchste Saiten chromatisch abwärts gezupft, ein tonales Motiv. Da ich lese, es wäre jetzt ein Clavinet, spielt sie schon jetzt im Jenseits dieses Artikels.
III Europäische Männer der vierten Generation: Wittenburg, Wallumrod und Zoubek
Nach Neuigkeiten von deutschen Männern der dritten und von europäischen Frauen der fünften Generation kommentiere ich noch der Männer der vierten Generation. Ich könnte es auch lassen. Aber nachdem Ken Waxman in seinem Klavier-Solo-CD-Artikel neben Kaufmann und Risser Florian Wittenburg und Christian Wallumrod genannt hat, ließ auch ich sie mir deren Werke für die Ohren kommen.
Wittenburg teilt die gute Stunde, die Eve durch 3 geteilt hatte durch 8. Einen großen Spannungsbogen kann man also sogleich gar nicht erwarten. Zu verschiedenen Terminen, zwischen seinem 37 und 42. Lebensjahr hat er seine Aleatoric Inspiration [15] aufgenommen. (Erste, 2008 und 2009 aufgenommene, also mit 35 Jahren eingespielte Klavier-Solo-Stücke hatte er zuvor mit einer Sympathetic, (a)symmetric - new music for piano betitelten CD veröffentlicht.) Man kann das Album mit seiner jüngsten Klaviermusik aufgrund des hohen Anteils von elektronischen Klängen für diesen Artikel streng genommen überhaupt nicht nutzen, aber es ist ‒ wie gesagt: ein ganz subjektiver Artikel, der letztlich das protokolliert, was ich mehr oder weniger zufallsbedingt in der mir zur Verfügung stehenden Muße beim Luxus der Positionierung meiner eigenen Solo-Aufnahme in die Hände bekommen habe. Zugegeben: Wittenburg beginnt mit ganz entschiedenem Gestus ‒ das ist die halbe Miete für ein Meisterwerk ‒, er beginnt in der höheren Mittellage ein Arpeggio rechter Hand, einzelne Basstöne links, beides repetiert. Dann folgen einzelne Töne. Es scheint zu Beginn ganz klar, das hier jemand ein ganz konzises Konzept für seine Klavier-Solo-Musik hat. Der Klang des Instrumentes wie der Aufnahme ist sehr gut. Und es ist klar: hier aktiviert jemand mit versierter Technik die Tasten. Und: er aktiviert das Klavier nur an den Tasten. Jedoch: das klare Konzept der repetierten Ton-Folgen lässt keinen ästhetischen Willen zu einem großen Spannungsbogen zu. Und: das klare Konzept der repetierten Ton-Folgen schließt hier ebenso einen Willen aus, dem Musik-Instrument, dem musizierenden Körper etwas abzuringen. Damit entsteht nichts. Sinn für Stille ‒ ja, aber diese wird hier nie so eröffnet, dass sie existentiell sich anschickte zur Geltung zu kommen. Die Töne folgen einander medisan. Dann wird es offenhörbar: das Klavier-Solo-Album von Wittenburg ist gar keines. Er spielt nicht nur Klavier, sondern hat hin und wieder auch ein Stück seiner elektronischen Klangregie auf diesem veröffentlichten Audio-Datenträger untergebracht. Selbstverständlich ist der Klang des aufgenommenen Instrumentes in den Jahren 2010 und 2014 nicht genau gleich. Aber das zweite Klavier-Stück ist ähnlich konzis wie das erste: einzelne Töne, Tonfolgen, ein delikater Akkord, ein halb hell geritzter, halb dunkeldichter Akkord aus der Tiefe ‒ repetiert. Die vierte Strecke des Stückes ist harmonisch unterer Märchenfilm im pubertären Mädchenschulzeitalter, die nur im Computer eine Figur delegiert haben. Bitte wirf, Rezensent, die CD weg! Bei den Akkorden des vierten Stückes, Varianten einer Kombination aus hohen und tieferen Tönen habe ich das Gefühl einer kitschig-banalen Fassung Feldman’scher Klaviermusik aufzusitzen. Fünftes folgt einem repetierten Wechsel aus dichtem Akkord in Mittellage und hohem Einzelton ein tief ankernder Mehrklang, dann eine Ton-Folge wie aus einem kitschigen, überproduzierten Jugendfilmtheaterwerk. Es hat hier jemand großes Talent, seine Spielfreude in Zaum zu halten ohne jedoch viel in Kenntnisse zeitgenössischer Klaviermusik investiert zu haben. Neben seiner eigenen Elektronik lässt Wittenburg noch eine zweite Person einen elektronischen Bogen verwenden..
Wallumrod teilt die lediglich 37 Minuten seines mit 42 Jahren eingespielten Klavier-Solo-Debut-Audio-Datenträgers Pianokammer [16] immerhin durch 6. 6 mittelkurze und mittellange Stücke werden auch hier keinen großen Spannungsbogen generieren; 3 Termine an 3 Orten ‒ ein Album, kein Werk. Wallumrod eröffnet sein Album mit einem minimal anschwellenden Klang. Das ist kein Klavier, das ist kein Flügel, das ist kein Innenklavier. Ist es ein Keyboard? ‒ Es ist eine Klangfläche, die elektronisch gestaltet ist. Wenn es kein Keyboard ist, sondern Wallumrod zur Grundlage dieses Klangs ein akustisches Klavier verwendet hat, dann ist diese Musik für meine Rezension trotzdem irrelevant, da ich prinzipiell keinerlei (weder in Echtzeit performte noch im Nachhinein eingeklinkte) elektronische Erweiterungen berücksichtige. Sein zweites Stück beginnt mit einer repetierten Ton-Folge auf den Tasten des Klaviers. Es ist ein hübsches Liedchen, kein zeitgenössisch streng strukturiertes Pamphlet oder inbrünstig errungenes Dynamo, weder in neue Geschwindigkeiten hingestreckt, noch die Zäsur auch nur eines einzigen neuen Bausteins. Ein hübsches Liedchen ‒ harmonisch, melodisch wie rhythmisch sehr konventionell. Das dritte Stück perlt dann in einem Splitter ‒ Ton-Tropfen der Taste hinter der anderen und durch sie hinweg, hier gräselt was: so könnten 274 Minuten zum Meister durchgespielt werden! Auch hier aber disqualifiziert sich der unfreiwillige Partizipant meines Rennens, im weiteren Rund der Ästhetik völlig unverschuldet, ‒ sein Fehler: auch hier wieder der elektronisch schwellende Sound. Das vierte Stück hat einen bluesigen Ground, Keith Jarrett sehr langsam, etwas seltsam, ohne Weiteres. Für einen freien Menschen ist diese ambitionslose Musik sicherlich ein Geschenk. Es ist geradezu ideal an einem späten Ostersonntagnachmittag gehört zu werden ‒ ideal im Hause einer sonst arbeitenden Familie, die gerade Besuch von eins, zwei weiteren Familien hat und all deren wohlerzogenen Kinder auf der ganzen Etage trotzdem spielen, während irgend ein Landhausmodengebäck aus dem Ofen in der Küche duftet. Das fünfte Stück ist offensichtlich aus einem Klavierklang generiert, der im Nachhinein elektronisch bearbeitet ist. Einzelne Akkorde, die vielfach im Echo ausklingen. Dann ein strenges, dicht klirrendes Geklimper aus dem höchsten Registerfeld, sehr wahrscheinlich ist es zum Teil geloopt. Auch in diesen zwei Minuten steckt ein Meisterwerk ‒ würde es nur zwanzigmal so lang andauern. Schließlich gibt es einen zweiten häuslichen Jarrett, der ganz unschuldig den Groove bluesig repetiert und in seiner Lahmheit wirklich zur Faszination berechtigten Anlass gibt. Hier lässt Wallumrod dann wieder einen elektronischen Klang hineinfahren. Es ist mit Sicherheit ein Keyboard.
Ein weiterer jüngerer, in den 1970er Jahren geborener Herr darf mit seiner Neuerscheinung und seinem als 36-Jähriger eingespielten Debut glänzen. Allerdings tragen die in 8 kurze, mittelkurze und mittellange Stücke geteilten 60 Minuten des Air [17] genannten Werkes auf der Suche nach dem langem Spannungsbogen nicht zu einem weiteren Ort des Tummelns bei ‒ immerhin sind sie zu einem Termin an einem Ort aufgenommen, und der Klang der Aufnahme wie des Klavieres ist sehr gut. Philip Zoubek eröffnet sich in der Präsentation als Meister der Präparation ‒ das ist natürlich zwei Tage nach meinem Besuch bei Hermann Keller spannend zu hören ‒; er hier ist dynamisch und elegant. Technisch gesehen handelt es sich wohl um ein ganz klassisches Set an Vorrichtungen, die er verwendet ‒ es sind die typisch Gamelan-artigen Klänge zu hören. Aktiviert werden die Klänge überwiegend mit Finger-Tastendruck. Allerdings ist offenbar nicht alles fix, er verschiebt vielmehr auch etwas Metallisches auf den Saiten: dann flirrt es verdammt magisch in den Flügen dieses wirklich beflügelten Flügels. Als zweites groovt das Gamelan, danach sinniert es geradezu. Später klingelt das Kinderspiel ‒ ein Album für kleine Schlagzeuge, manchmal mit Fett und dicken Kakteen ausgebeult. Dann schwebt und sähmt es, oder es droht.
IV Deutscher Mann der ersten und Italiener der dritten Generation: Keller und Braida
Man könnte nun auch noch die Solo-Scheiben von Michael Wollny und Simon Nabatov [18] hören, aber ich kann es auch genauso gut lassen. Natürlich ist auch Joachim Kühns letzter Solo-Wurf [19]interessant ‒ immerhin gibt es aus dem Jahre 2007 ein schönes Foto von uns beiden. Was ist mit Herbie Hancock [20], Chick Corea [21] und Keith Jarrett? ‒ immerhin hat letztgenannter etwa 2008 auch ein paar behende, abstrakter ins zwölftönige Total flott sich einschießende Nummern kaskadesk übereinanderherfallender Ton-Folgen ‒ aber eben nicht: den gesuchten langen Spannungsbogen ‒ gebracht [22] und letzterer 2014, ein paar Tage nach meinen hier zielführend anvisierten Yamaha-Solo-Aufnahmen auf dem selben Instrument gespielt [23]. Wir lassen dieses malerische Dreigestirn der amerikanischen Tasten wie auch Paul Bley [24], Abdullah Ibrahim und Dollar Brand [25] für diesen Artikel außen vor. Am allerletzten Ende könnte man auch noch die Scheiben von Andrea Neumanns Spiel ihres auf das Innere reduzierten Klaviers anhören [26] ‒ mit Gewinn, ‒ aber wozu bei einem Artikel, der nur etwas die beiläufige Kenntnisnahme des Umfeldes der eigenen Tasten-Solo-Musik skizzenhaft flankiert? [27] Wenn man nicht lassen kann ist ein Jüngerer, und ein Älterer. Beide habe ich persönlich erlebt.
Den Alten kenne ich natürlich ‒ wie jeder jüngere der DDR-Eingeborenen ‒ aus der Schallplattensammlung des Vaters: dort Mitglied des Berliner Improvisationsquartetts ist Hermann Keller neben dem Jazzer Gumpert der andere, stärker im Diskurs der Neuen, Komponierten Musik verortete ost-deutsche Klavierist der ersten Generation. Am 13. Juni 2013 bespielte ich zur Gedenkperforrnace für Friedrich Schenker gemeinsam mit ihm ‒ für einen Augenblick ‒ die gleiche Bühne in Leipzig, die Bühne der nach ihm ‒ setztechnisch falsch ‒ benannten HMT ‒ Hochschule HerMann Teller). Jetzt rufe ich ihn an: sein Debut wäre ‒ wie auf Wikipedia schon gelesen ‒ 1987 die Schwebungen/Brechnungen [28] gewesen, Anfang 40 eingespielt. Ich könne mir gelegentlich ein Schallplattenoriginal bei ihm abholen. Zunächst höre ich sein zweites Album: 29 Stücke für präparierten und nicht präparierten Flügel [29], mit 63 Jahren, solo am Klavier eingespielt. Wann habe ich ihn angerufen? ‒ Am 20. März 2016 ‒ da war er noch 70. Jetzt, am 8. April des selben Jahres, als ich es mir wirklich anhöre, ist er schon 71. Zwischen Telefonaten liegen Jahre, zwischen CDs Jahrzehnte ‒ eine einzige CD birgt ein ganzes Leben: Herrmann bringt mit einer solchen, dieser letzten eine runde Stunde auf die Waage ‒ der Audio-Umfang: 60 geteilt durch 29 ergeben kurze Stücke ‒ zwei sind länger, nämlich mittelkurz. Ein großer Spannungsbogen ist damit nicht erwartbar. Er hat an einem Ort zu zwei verschiedenen Terminen zwei verschiedene Flügel zum Einspielen genutzt. Einer ist unpräpariert, der andere im klassischen, wohl durch Cage bekannt gemachtem Sinne sowohl mit Gummi als auch mit Schrauben präpariert. Damit geht er von vornherein der mißlichen Gefahr aus dem Weg, der ein sowohl das tonale Tastenspiel als auch das Spiel quasi im Inneren des Klangs bewerkstelligenden Klavierspieler oft ‒ wie auch allein für diesen Text schon gehört ‒ in die Arme läuft. Aber zu kurz gedacht, denn ‒ so weit sei vorausgegriffen ‒: er spielt praktisch nicht einen einzigen einfachen Klavierton, wird keinen spielen. (Oder doch?) Er ist ein Hero. Kellers Album beginnt mit dem Präparierten ‒ ja, hier ist es: das inspirierte, vielfarbige Perkussionsinstrument, total crazy, richtig krass, sensationell gut! Es klopft, schnarrt und klirrt auf eine inspiriert sexy groovigen Art und Weise. Die nächsten fünf Stücke bringen nun weitere Klang-Muster, die immer sehr geil sind. Keller ist immer Humor und nimmt immer die Faust voll dick auf’s Auge. Das sechste Stück ist Tom Waits gewidmet, interessanterweise ist das siebte Stück eine Variation des sechsten! Es gibt Grund genug, Keller zum Lieblingspianisten zu wählen! Er ist immer exotisch, seine Kreativität immer die Beste der Welt. Beim neunten Stück lässt auch er den Topfdeckel kreisen. Kein Grund von unermeßlichen Geisterstimmen zu schwärmen. Hier musiziert ein echter Mensch, man kann sogar sagen: mit sächsischem Akzent. Er kommt aus Thüringen wie ich. Wie Gumpert. Wie Schenker. Er kommt aus Sachsen. Wie Günter. Auch beim 10. Stück rührt er mit der eigenen Hand im Inneren. Man kann ihn sogar besuchen. Man kann ihm die eigene Hand zum Schütteln reichen. Und man kann diesen Flügel, seinen präparierten tasten. Man könnte ihn vielleicht sogar wie Babys Schlagzeug erben. Er, der längst in Berlin wohnt, ist der geschickte, bestimmt der beste Deutsche am präparierten Klavier! Jetzt wo er seit zwei, drei Stücken nicht seinen mit externen Objekten prä-präparieten Flügel verwendet präpariert er ihn aus seinem eigenen Fleisch und Blut, also intern-leiblich. Hey, hier Jerome Gurlippe-Krakau. Andromeda hat die Hirse gewebt, gewickelt. Ein Irleander-Brom Hürli konvexi. Sniefrippipeng. Schnürli wedro Feder odrofur. Keller hier ist so kräftig, dass er sich selbst nie wieder das Wasser reichen wird. Es ist ein Meisterwerk. Ich selbst könnte nicht behaupten, dass Keller nicht ein Pauer wär‘, mit Elan. Nur spielt er in einem anderen Register. Nicht unerwähnt lassen möchte ich, dass Keller beim vorletzten Stück dann doch Jazz spielt. Insofern ist die CD für’n Arsch. Er widmet das Stück Ekkehard Jost. Das letzte Stück ist auch Jazz. Er widmet das Stück einer Katze, die so heißt wie die Katze meiner Schwiegermutter. Es ist schwierig, tatsächlich ein Meisterwerk zu veröffentlichen. Selbst wenn ein Meisterwerk errungen wird, besteht bis zum Schluss die Chance, dass es keins bleibt.
Am 1. Juli 2016 höre ich nun, sozusagen nachträglich, Kellers Solo-Debut, welches er vermutlich ‒ während des Telefonats am selben Tag kann er sich nicht dazu entschieden äußern ‒ ein Jahr vor der Veröffentlichung 1987 aufgenommen hat ‒ an einem Tag an einem Ort, nämlich dem Ort seiner Berliner Wohnung, in der er mich am 28. Juni 2016 empfangen, das Exemplar übergeben und mir auf seinem Spezialflügel etwas vorgespielt hatte. Ich höre zwei mittelkurze und zwei mittellange Stücke ‒ Keller hat die 40 Minuten durch 4 geteilt. Nun, der Anfang Vierzigjährige spielt zunächst ganz flott mit flotten Fingern die Tasten, wobei er die Saiten fix präpariert hat, das Gamelan-artige ist auch hier ganz groß. Nach hellerem Flirren tropfen dumpf bis düstere Glumm- und Klirrleiern. Neben dem fixen, schürft auch Keller hier mit mobilem Blech etwa über die geriffelten Basssaiten. Dabei bläst die Klavierist nun zusätzlich die Flöte an, einen Cluster begleitend. Ja, und er seufzt mit seiner eigenen Stimme! Meisterliches Quietschen, ‒ das geht über einen einfach gedrehten Topfdeckel hinaus! Keller ist brüchiger als Zoubek, ‒ und war eben vorher da. Aber man kann natürlich unbedingt empfehlen: diese beiden Musiker in einer Wohnung zusammenspielen zu lassen. Sie sind stilistisch kompatibel, und hinsichtlich ihrer hier angeschriebenen Werke präparierter Klavierklänge dankenswerterweise ästhetisch konsequent. Das ist große Kunst: das sollte man auf der Bühne hören!: eine marantz/ASW-Stereoanlage, ein Boseteil. Interessant ist auf der B-Seite zu hören, wie schnell Keller ist, bestimmt mit einem Hilfsmittel! ‒ so ein Schlittern, eine solche Wischgeschwindigkeit habe ich zuvor noch nicht gehört!!
Braida ist es, dem italienischen Klavieristen der dritten Generation, der sein Album Qued [30] als ein Werk in einen langen Spannungsbogen gefasst vorgelegt hat: 45 Minuten! Das ist sein Solo-Debut, eingespielt mit 38 Jahren! Ich kann mich gut erinnern, so habe ich ihn am 5. November 2004 ‒ einen Tag vor Freds in die Diffusion des Bewusstseins der Ewigkeit einrollenden Gleitzug ‒ erlebt: hier ist der große Bogen zerstückelt, Braida klirrt höchste Einzeltöne, dichteste Zwei-Ton-Cluster und bricht abrupt Scherben in mittlerem Register entzwei, immer die rechte im Anschlag der Taste, die linke zum Abdämpfen der Saiten ‒ die tiefen Töne dicker Saiten glissandieren schwingend ihre Schwingung an oder ab, alles rhythmisch so spröde wie möglich, hier ist der Fluß fragmentiert, aber er hakt und hackt, sticht und stöckelt, hinkt beständig weiter ohne abzubrechen oder zu verebben. Es folgen vieltönig weiter ausschlingernde Exkurse, mobile Cluster, auch Repetitionen klanglich modifizierter Akkorde, eine zarte, kaum hörbare Tonfluse, aufschwebende Klangfedern. Das ist formal sehr konsequent und immer erfindungsreich in vollständig gegenwärtiger Emphase. So stürzt er dann gegen Ende aus seinen verfremdeten Klängen heraus wie ein von der Tarantel gestochener Taylor, hochaggresive Bisse über den ganzen Sturzbach der Tastatur ‒ kurzatmiger Duktus einer präzisen Karate-Schlagkultur.
V: Engländer der ersten, Schweizer der zweiten Generation: Tippett und Demierre; Amerikaner der dritten und Japaner der quasi-ersten Generation: Shipp und Kikuchi
Retten könnte die Klaviersolomusik nach den Heroen der ersten Generation nur einer der zweiten: Jacques Demierre. Ich runde den Weg zu ihm mit einem neuen Liebling aus der ersten ab: Keith Tippett. Hansi Noack hat gemeint, er hätte ihn einmal mitgenommen, von Dresden nach Berlin oder so.
Man könnte jetzt auch sagen: ja, da ist er! Seine erste ‒ herausgegeben mit seiner zweiten… ‒ Mujician I & II[31]. Er ist der Hit an den Tasten: kräftig-pochend, tief, aus der Tiefe aggresiv hinauf, und immer weiter ‒ das ist Zwölfton und Ragtime, aber was für ein Roll!, beide Hände abwechselnd, im schnellen Stechschritt ‒ so will ich’s haben: eine großdynamische Dramaturgie aus einem Guß die gegen Ende hin das Haltepedal zur Vergrößerung des Resonanzraumes nutzt, ‒ aber es geht nur 10 Minuten lang; er ‒ im Alter von 34 Jahren ‒ teilt die knapp 70 Minuten durch 5. Zäsur: dreimalige Klingel wie aus dem Schaufenster des 60er Jahre-Kaufhauses. Das zweite, entgegengesetzt: einzelne Saiten, eine Zither-Ton wie ich ihn glissandierend drücke, tiefe Saiten, und er setzt seine Stimme ein!, er singt, er röhrt. Am Abend dieser Hörerfahrung bestelle ich unter Einsatz von 40 Euro als Ebay-Sofortkauf einen großen Rimowa-Hartschalenkoffer für die Rahmentrommeln, die ich mir für mein diesjähriges Konzertflügel-Ensemble-Spiel zum Kauf ausgewählt habe. Am nächsten Tag: das längste Stück von Tippett währt 20 Minuten und beginnt, mit anderem Gerät an den Konzertflügel angelegt: ein Blech auf den gerillten Saiten, sich bewegend. Dazu spielt er die metallisch verfremdeten Saiten mit seiner Rechten über die Tasten an, die er harmonisch gefestigter zentriert. Tippett bleibt tatsächlich bei der gewählten Materialdisposition: das Blech bleibt auf den Saiten im höheren mittleren Register liegen: sie gleicht damit genau derjenigen, die ich als Zweiundzwanzigjähriger während meines Zusammenspiels mit Baby Sommer herausstellte ‒ in der elften Minute klingt es bei Tippett auch ziemlich ähnlich wie damals bei mir. Er hat das gleiche rhythmische Feeling und die gleiche Klangvorstellung wie ich. Taylor, van Hove, Schlippenbach gefallen mir nur deshalb besser, weil sie weniger identisch mit mir sind. Das vierte Stück zeigt Tippett wieder wie beim ersten (sowohl die 1981er als auch die 86er Auswahl präsentiert ihn mit je einem Stück mit reiner Tasten und mit anderem Material): wieder flott, wieder knackig, von unten ins mittlere griffig hochtastend. spannend: wie ebenso ich differenzierend erfahren habe, landet er von dem streng die Hände abwechselndem Spiel plötzlich bei einer simultanen Aktivierung!, hihi, ‒ Register und Stilwechsel, sogar Pedal: weniger konsequent als ich. Dann beginnt sein fünftes Stück: hier ist der Flügel im oberen Register schon ziemlich verstimmt…; er wechselt abrupt ins tiefe. Tippett spielt hier meisterlich, aber es ist kein Meisterwerk ‒ wie auf der vorderen, äußeren Umschlagseite lesbar handelt es sich um ein „PIANO SOLO“, nicht um ein GRAND PIANO SOLO, wie ich aus anderem Anlass mein eigenes (primäres Sekundär-)Debut untertiteln werde. Neben sehr pedalverhallten Tasten quietscht er irgendwann ziemlich herum, außerdem dreht er an einer kleinen Spieluhr Hänschenklein herum, schabt mit der Rechten an dem Geriffelten, während seine Linke einen Tieftastenklangraum beibehält… auch dieser Pianist hat plötzlich für 12 Sekunde eine Flöte in der Hand. Später sogar zwei. Ich sag’s ja. Abgedämpfte, d.h. obertönig angereicherte Basssaiten.
Aber das war’s ja noch nicht, seine dritte Soloplatte Mujician III (August Air) [32], mit 39 Jahren eingespielt, verspricht einen Spitzenplatz: 70‘ durch 2!, das längere 47‘! Zunächst das erste, kürzere (ein 20er): es geht wirklich mit der ersten Sekunde los: die linke Hand traditionell: einzelne kurze Basstöne, gefolgt von Akkorden, die gern chromatisch verrückt werden, die Rechte perlt Läufe, angebluest; der Abstraktionsgrad ist vergleichsweise gering. Allmählich aber ziehen beide Hände an einem Strang ‒ jenem, der schon auf der ersten Platte hörbar war. Und dann liegen auch wieder die Holzbrettchen auf der Tastatur. Der Unterschied bleibt: er verwendet das Pedal. Er spielt sich in andauernd flirrend aufgelösten Akkordbewegungen ein. Das zweite Stück, versprochen als opus magnum, hebt Tippett in der Tat mit langem Atem an: Lautstärke zurückgenommen, vibriert ein Holzbrett seinen Klang auf den ansonsten mit Tasten angerührten und mit Pedal verhallten Saiten; Tippett lässt alle zehn Finger weiter über diesem Pedal in die Saiten flirren…. ‒ bei Minute 23 hält er immer noch die Form!, ‒ beidhändig harmonisch verdichtete Akkordtremoli über die ganze Tastatur gebäumt… ‒ er hält sie noch bei 30‘ ‒ bei 36‘ kann er dem Flimmern eine basale Zäsur bestimmen, höchst gewinnträchtigt. Dem großen Spannungsbogen gesellt sich eine Zäsur bei. Bravo. Und: ab 38‘ entlässt er endlich das Pedal dorthin, wo es gehört: in die wohlverdiente Abwesenheit ‒ jetzt kann er gleiten und zwar so schnell, wie es einem talentierten, geschmackvollen, eingespielten Klavieristen zukommt. Für einen Moment jedenfalls, der nach Pedalbruch glücklicherweise nochmal wiederholt wird. Nach einem Ritardando und einem Bluesakkord ertönt als Schlussstein der tiefe abgedämpfte Saitenton!
Erst jüngst, in unserem Jahr veröffentlicht, hat Tippett, nun im Alter von 64 Jahren, einen weiteren derart großen, die gefragte Dreiviertelstunde währenden Spannungsbogen nachgelegt ‒ selbstverständlich an einem Ort, zu einem Termin einen hervorragenden Flügel hervorragend aufnehmen lassen. Bei Mujician IV [33] finden wir wieder sein großes Ausdrucksspektrum mit filigraner Virtuosität gepaart. Das gestalterische Arrangement besteht aus einer häufig modal gewichteten Melodik, welche sowohl pathetische Motivik als auch bluesige Grooves einschließt, und einer losen Präparation mit verschiedenne Gegenständen, mit welchen er vom Inneren des Konzertflügels aus die ertasteten Klänge vervielfältigt. Zu den erweiterten Spielweisen gehören quietschende Glissandi auf den Saiten ebenso wie eine mit einer einfachen, additiven Rassel realisierte Perkussion.
Von Tippett zu Demierre, von der 1. zur 2. kommt mir aus Tippetts Stall FMP noch das Debut-Album eines dritten, eines Konzertflügel spielenden zentralen amerikanischen Akteurs der 2. Generation unter. Matthew Shipp teilte zwar die Gesamtlänge der 70 Minuten von Before The World [34] durch 5, präsentiert aber mit einem über 20- und einem sogar über 30-minütigen Stück im Alter von 34 Jahren Musik, welche einen langen Spannungsbogen tatsächlich zu versprechen scheint. Allerdings hält sein Spiel nicht die Qualität, die sonst sein Stall verspricht. Immerhin, er arbeitet nur an den Tasten und eigentlich spielt er vom Ansatz ganz ähnlich wie ich, nur weniger konzis. Manchmal, wenn er wenig spielt, entstehen ganz ähnliche Ton-Folge-Motive wie bei mir. Hier aber ist der Flügel deftig verstimmt. Hier aber klingt es ein bißchen gewollt, nicht gemusst, es klingt nicht durchdrungen, nicht erarbeitet, sondern eher: hier hat jemand gegeben, was er angenommen hat, an dieser Stelle erwartet zu sein… (Ich höre dann in meine 3. Yamaha, und muss sagen: kann standhalten, ist zum Teil besser, jedenfalls klarer artikuliert.) Dynamisierungs- und Fragmentierungsaspekte mit den Tasten. Doch Shipp driftet in gar jazzoid harmonisierte Gefilde ab, ‒eine völlig formwillenlose Platte!
Demierre nun, im Alter von 53 Jahren, ‒ sein erster als CD physisch vertriebener veröffentlichter Audio-Datenträger mit dem Titel One Is Land [35]: 43‘ geteilt durch 2 ‒ haut rein in die Tasten ‒ der beeindruckende Eröffnungsschlag zu Sekunde 6 ‒, mit allen Fingern, Händen, wahrscheinlich bis in die Unterarme hinauf: es hört sich auch nach Pedal an, eigentlich schließt er an Tippett an, aber durchwegs abstrakt, etwas gewälttätiger, ‒ hier das ist gewältig, hier das ist eine ganz gewaltige in die Fluten gekippte und tosende Klaviatur ‒ dieser vermutlich mit einem solchen Impetus ein bestimmtes Maß (vielleicht physisch-voluptischer) Grenze erreichende Klavierist endet allerdings nach 24 Minuten, ‒ es war das längere Stück der beiden; das kürzere erreicht die 20‘-Marke nicht ganz und zeigt sich als Sammlung verschiedener Reibungspunkte ‒ gewissermaßen im Gegenteil zum ersten beginnt er die kürzest, hart gespannten dünnsten Saiten, höchste Tönen anzuregen: Demierre fährt über perkussive Marken des großen Objektes, verdichtet auch hier, wackelt später in dieser Landschaft geräuschhafter Friktionen; im nächsten Abschnitt beinahe fugal charmante Folgen von Obertönen abgedämpfter Saiten ‒ und eine Symphonie von Fahrten über die tiefsten, geriffelten Saiten: auch das hier alles mit Elan, Vitalität und hoher Entschlusskraft. In der vierzehnten Minute ist dann auch die Tastatur wieder Berührungspunkt, ‒ hier gelingen ihm eher horizontal gestreckten Klänge.
Schließlich, brandneu veröffentlicht, höre ich Masabumi Kikuchis Black Orpheus [36]: wenn es nicht sein Debut darstellt, dann vielleicht sein letztes Solo: das Klavier klingt sehr gut, es ist sehr gut aufgenommen: an einem Ort, zu einem Termin ‒ ein stilistisch homogenes Album mit viel Geschmack: dieser Klavierist spielt nur an den Tasten, der chromatischen Totalen auf der Spur; im Antlitz: ein hoher Abstraktionsgrad ‒ nur ist er nicht an einem langen Spannungsbogen interessiert, sondern teilt die 70 Minuten durch 11.
Tschüss!
Bei Lichte betrachtet ‒ um eine mir durch den Philosophiedozenten Hans-Jürgen Lachmann bekannte journaillientaugliche Wendung zu nutzen ‒ bleibt einzig Fred van Hove, ist es einzig die selbst als Konzert erlebte Aufnahme, die meiner Ambition den von mir unerreichten Markstein setzt: nur das Berliner Roll ist der große Zug über eine Dreiviertelstunde an den Tasten.[37] Schlippenbach ist bei 20, Taylor bei 33 Minuten geblieben. Jenseits der Tasten und damit jenseits des in diesem Artikel stehenden Interesses habe ich in ihrer höchsten Meisterschaft und ästhetischen Konsistenz für mich selbst entdeckt und bewiesen: die Musik Magda Mayas. Ganz zufällig ist die Deutlichkeit dieser meiner Präferenz ganz sicher nicht, habe ich doch beide in der Hochphase meiner Bildung jugendlicher Euphorie in zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben des total treffsicheren Festival dieser Szene erlebt.
Derweil ist es 2017 geworden. Am 27. Februar 2017 nehme ich die Sendung aus Portugal in Empfang. Yamaha/Speed dokumentiert als bei CREATIVE SOURCES RECORDINGS veröffentlichter Audio-Datenträger hörbar meine am 4. Juni 2015 in Leipzig für Elan Pauer am YAMAHA CFX unbegleitet eingespielte Solo-Musik. Und am 3. Mai 2017 erhalte ich für EUPHORIUM RECORDS die bereits zwei Tage vorher, am 2. Juni 2015 ebenso eingespielte Musik als Oliver Schwerdts Prestige/No Smoking.
1 Höre vgl. Sommer, Günter: Hörmusik (19790811) [FMP, AMIGA]!
2 Tatsächlich habe ich längst Klavier-Solo-Musik aufgenommen und unter meinem bürgerlichen Namen wie unter den Pseudonymen Birg Borgenthal und Elan Pauer veröffentlicht, allerdings nicht als ein einen ganzen Audio-Datenträger aufspannendes Werk. Höre vgl. Borgenthal, Birg: Schach für präpariertes Klavier, Pt. I, II, III, IV (2002-03 Düsseldorf) in Glucharen, Michael; Friedrich, Schenker; Dorschner, Hartmut; Kettlitz, Friedrich; Kuntermann, Gero;
Lorenz, Peter; Borgenthal, Birg; Waack, Sebastian Waack; Schneider, Jens; Grüneberg, Hermann; Sommer, Günter: Dal Ngai [EUPHORIUM 2003]; Borgenthal, Birg: Schach für präpariertes Klavier, Pt. V (20031005 Leipzig) in Schenker, Friedrich; Dorschner, Hartmut; Borgenthal, Birg; Sommer, Günter;; Oggdropur; Dorschner, Hartmut; Mahall, Rudi; Borgenthal, Birg; Feuerbach, Rüdiger; Grüneberg, Konrad; Juhnke, Gerrit: 1 Schenkel, 1 Dorsch, Sommers schön im Birkenthal / Anderer Maßnahmen Aufzeichnungen nach Feitenbrueden? (20030214 Dresden, 1005 Leipzig) [EUPHORIUM 2005]; Schwerdt, Oliver: Wisch mir den Rahm aus den Augen, Rom! Wisch mir den Mohr aus den Ohren, Marx! (20040612 Düsseldorf) in Niermann, Fabian; Schwerdt, Oliver; Grüneberg, Konrad: Weiches Ziel (20040612 Düsseldorf) [EUPHORIUM 2005]; Schwerdt, Oliver: Dry Swing (20110320 Leipzig) in Schwerdt, Oliver; Sommer, Günter: Dry Swing/Tandem Spaces (20110320 Leipzig) [EUPHORIUM 2013]; Pauer, Elan: Dry Swing (20121218 Leipzig) in Petrowsky, Ernst-Ludwig; Pauer, Elan; Landfermann, Robert; Edwards, John; Lillinger, Christian: Big Pauer (20121218 Leipzig) [EUPHORIUM 2013] resp. Schwerdt, Oliver: Dry Swing (20121218 Leipzig) in Schwerdt, Oliver; Landfermann, Robert; Lillinger, Christian: Small Pauer (20121218 Leipzig) [EUPHORIUM 2013]; Pauer, Elan: Dirn Bridge (20131217) in Dörner, Axel; Pauer, Elan; Lillinger, Christian: Dirn Bridge (20131217) [EUPHORIUM 2014]!
3 Höre vgl: Taylor, Cecil: Erzulie Maceth Scent (19880716 Berlin) [FMP 1989]; Schlippenbach, Alexander von: Twelve Tone Tales (20050614-16 Baden-Baden) [INTAKT 2005]; Hove. Fred van: Berliner Roll (20041106 Berlin) in Fuchs, Wolfgang; Hove, Fred van: Facetten [ALL 2005]! Darüberhinaus schätze ich sowohl Schlippenbachs Solo-Debut, welches er noch mit 29 Jahren eingespielt hat ‒ höre vgl. Schlippenbach, Alexander von: Piano Solo ’77 (19770218-21 Berlin) [FMP 2008]! ‒, als auch ‒ neben jenen Alben der beiden genannten west-europäischen Akteure ‒ das Album des Ost-Deutschen ‒ Ulrich Gumpert ‒ höre vgl.Gumpert, Ulrich: The Secret Concert (19870420 Berlin) [ITM 1991]!
4 Höre vgl. Schwerdt, Oliver; Sommer, Günter: Dry Swing (20110320 Leipzig) in Schwerdt, Oliver; Sommer, Günter: Dry Swing/Tandem Spaces (20110320 Leipzig) [EUPHORIUM 2013]; Schwerdt, Oliver; Lillinger, Christian: Small Pauer (20121218 Leipzig) in Schwerdt, Oliver; Landfermann, Robert; Lillinger, Christian: Small Pauer (20121218 Leipzig) [EUPHORIUM 2013]; Pauer, Elan; Lillinger, Christian: Brown Shoes (20131217) in Dörner, Axel; Pauer, Elan; Lillinger, Christian: Dirn Bridge (20131217) [EUPHORIUM 2014]!
5 Höre vgl. Kaufmann, Achim (*1962): Knives (20030110 Duisburg; 20031209 Amsterdam; 20040325 Köln) [LEO 2004]!
6 Höre vgl. Kaufmann, Achim (*1962): Later (20140518-19 Oberhaching) [PIROUET 2015]!
7 Höre vgl. Oberg, Uwe (*1962): Twice, At Least (20121207 Wiesbaden; 20150303 Wiesbaden) [LEO 2015]!
8 Höre vgl. Oberg, Uwe (*1962): Work (20080710 Saarbrücken) [HAT HUT 2015]!
9 Höre vgl. Oberg, Uwe (*1962): Olo Olo (199305-07 Wiesbaden) [HYBRID 1993]!
10 Höre vgl. Borchert, Johanna (*1983): Orchestre Ideal (201108-09 Berlin) [WHY PLAY JAZZ 2012]!
11 Höre vgl. Draksler, Kaja (*1987): The Lives Of Many Others (20130702 Ljubljana) [CLEAN FEED 2013]!
12 Höre vgl. Risser, Eve (*1982): Des Pas Sur La Neige (201307 Juillaguet) [CLEAN FEED 2015]!
13 Höre vgl. Mayas, Magda (*1979): Heartland (200809 New York, 200811 Berlin) [ANOTHER TIMBRE 2010]!
14 Höre vgl. Mayas, Magda (*1979): Terrain (20130915 New York, 20130922 Baltimore) [GAFFER 2015]!
15 Höre vgl. Wittenburg, Florian (*1973): Aleatoric Inspiration (20090304, 201007-201404 Nimwegen) [NURNICHTNUR 2015]!
16 Höre vgl: Wallumrod, Christian (*1971): Pianokammer (201312; 201401, 04 Oslo) [HUBRO 2015]!
17 Höre vgl. Zoubek, Philip (*1978): Air (20141208 Köln) [WHY PLAY JAZZ 2015]!
18 Je einen veröffentlichten Audio-Datenträger besitze ich ‒ höre vgl. Wollny, Michael: Hexentanz (200505 Ludwigsburg, 200608 Zerkall) [ACT 2007]; Nabatov, Simon: Perpetuum Immobile (20001126 Köln) [LEO]!
19 Höre vgl. Kühn, Joachim: Soundtime (?) [JAZZWERKSTATT 2010]! Ich habe sie mir von Ulli Blobel noch nicht zuschicken lassen.
20 Gibt es etwas von ihm, was entfernt in die Runde der Zeitgenössisch Improvisierten Klavier-Solo-Musik zählen könnte?
21 Hat er irgendwo mal ein Solo gespielt, was seinen im Quartett oder Trio Errungenem die Stange hält?
22 Höre vgl. Jarrett, Keith: Paris/London (20081126 Paris, 1201 London) [ECM]!
23 Chick Corea hat während seines Konzertes am 22. Juni 2015 im Leipziger Gewandhaus auf dem YAMAHA CFX (63676000) gespielt, welchen Tino Fuhrmann dorthin hat fahren lassen.
24 Einen veröffentlichten Audio-Datenträger besitze ich ‒ höre vgl. Bley, Paul: Solo in Mondsee (200104 Mondsee) [ECM 2007]!
25 Einen veröffentlichten Audio-Datenträger besitze ich ‒ höre vgl. Brand, Dollar: African Piano (19691022 Kopenhagen) [SPECTATOR 1970]!
26 Ich habe keine Solo-CD von ihr.
27 Eine neue Platte habe ich mir für diesen Artikel aber tatsächlich extra bestellt: Petrin, Umberto (*1960): Traces and Ghosts (201307 Genf) [LEO 2014]. Niemand kennt diesen Musiker. Wie diese Fußnote beweist, ist sie nicht einmal eine Fußnote wert. Dieses Klaviersolo ist mit Esprit gespielt ‒ das ist viel wert!, aber durchwegs spielt dieser Klavierist traditionell fakturiert. Auch der Klang ‒ wie Barjazz von Ray Bryant. Bei einem Titel quietscht die Elektronik mit ‒ äußerst seltsam, nur nach einem kurzen, betörend gebremsten Kneipenabend in sturmfreier Bude von der Badewanne aus fast zu Sinnen, sinnüberschwemmt hörbar.
28 Höre vgl. Keller, Hermann (*1945): Schwebungen/Brechungen (1986 Berlin) [EDITION RZ 1987]!
29 Höre vgl. Keller, Hermann (*1945): 29 Stücke für präparierten und nicht präparierten Flügel (200711, 200805, Berlin) [JAZZWERKSTATT 2010]!
30 Höre vgl. Braida, Alberto (*1966): Qued (20031221 Lodi) [Z-REC 2004]!
31 Höre vgl. Tippett, Keith (1947*): Mujician I & II [19811203-04, 19860613 Berlin ] [FMP1998]!
32 Höre vgl. Tippett, Keith (1947*): Mujician III (August Air) (19870625-26 Berlin) [FMP1989]!
33 Höre vgl. Tippett, Keith (1947*): Mujician IV (20120114 Piacenza) [DARK COMPANION 2015]!
34 Höre vgl. Shipp, Matthew (*1960): Before The World (19950614-15 Berlin) [FMP 1997]!
35 Höre vgl. Demierre, Jacques (*1954): One Is Land (200704 Berlin) [CREATIVE SOURCES 2008]!
36 Höre vgl. Kikuchi, Masabumi (*1939): Black Orpheus (20121026 Tokyo) [ECM 2016]!
37 Neben den damit bezeichneten 49 Minuten aus dem Jahr 2004 liegen von Fred van Hove noch zwei weitere lange Spannungsbögen hörbar dokumentiert vor: im selben Jahr, Monate zuvor aufgenommene 47 Minuten (Höre vgl. Hove, Fred van: Roll-over (20040303) in ders.: Spraak & Roll (20030814, 0910; 20040303) [WIM]), und 52 Minuten aus dem Jahr 2007 (Höre vgl. Hove, Fred van: Journey (20070822) [PSI].
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